Uraufführung: 23. Oktober 2019, Kampnagel Hamburg
„Am Anfang ist der Zweifel. Vor jedem Satz, jedem Wort, gibt es diese Schwelle: Ist das richtig? Woher weißt Du, dass es zutrifft? Ist es gerecht? Ist es nicht nur wahr, sondern auch wahrhaftig? Und das sind nur die Zweifel an dem, was gesagt werden könnte.“ Carolin Emcke
In Begleitung von Albrecht Dürers Kupferstich-Figur „MELENCOLIA I“ begann vor drei Jahren für Antje Pfundtner in Gesellschaft eine Trilogie über die Gesetzmäßigkeiten von Zeit und Vergänglichkeit.
Albrecht Dürer schuf einst eine engelsähnliche Gestalt, die mit hochgezogenen Knien nahe dem Boden kauert und ihren Kopf auf die linke Hand stützt. Trotz ihrer Flügel hebt diese Figur nicht ab. Alles ruht: Bewegung, Arbeit und Zeit stehen still. Ihr Nichtstun verwirrt: Tut sie nichts mehr? Oder hat sie vielleicht noch gar nicht angefangen, etwas zu tun? Worin bestünden der Beginn oder das Ende ihres Handelns, stünde sie nicht still?
„Ich beschreibe es mal persönlich: Dieses Stück ist mein Versprechen. Mein Versprechen nicht aufzugeben, mein Versprechen am Leben teilzunehmen, zu versagen, weiterzumachen, beschämt zu sein, mir Zeit zu nehmen, stets frei zu entscheiden, ob ich mich erheben oder hinsetzen werde.“ Antje Pfundtner
„Sitzen ist eine gute Idee“ setzt beim Handlungspotential von Bewegungslosigkeit an. Denn was könnte die kauernde Dürersche Figur bereits beendet oder noch vor sich haben?
Sitzen versus Aufstehen, Aufstehen versus Aufgestanden-Sein: Worin liegt die Motivation begründet, sich zu erheben oder sich wieder hinzusetzen? Melencolia ist nicht sentimental, sie denkt nur gründlich darüber nach, wann sie zur Tat schreiten wird und weshalb.
Nach den zwei ersten Stücken rund um die menschlichen Beweggründe, etwas zu beginnen und zu beenden, performatives Handeln an zeitliche Parameter von Anfang und Ende zu binden, schließen Antje Pfundtner und Team ihre Trilogie mit einem Solo ab, welches den Motiven, Bedeutungen und Regungen des Aufstehens gewidmet ist:
Aufstehen = sich erheben – sich in die Vertikale begeben – handeln – womöglich auch den Aufstand proben und wenn ja, mit wem?
Aufstehen jedenfalls als ein viel zu kurzer Moment, um ihn als Anfang oder Ende deuten zu können: Aufstehen als ein sogenanntes Momentum (lateinisch mōmentum: Dauer einer Bewegung).
Aufstehen als melancholischer Moment, insbesondere wenn die Zeit gekommen ist, die Trilogie abzuschließen, sich zu erheben, für sein Publikum aufzustehen, um es zu bewegen.
Wenn wiederum das Publikum aufsteht, ist das Stück zu Ende und die Zuschauer*innen machen sich auf den Weg. Aber wohin gehen sie und warum kamen sie überhaupt her?
Als ein Relikt des Dahin-Gekommen-Seins und des Wieder-Gehens bleiben die Solistin und die Stühle zurück, auf die sich die Menschen zu Beginn setzten und von denen sie sich am Ende wieder erhoben haben.
Idee & Konzept: Antje Pfundtner in Gesellschaft
Choreografie: Antje Pfundtner
Tanz: Antje Pfundtner
Dramaturgie: Anne Kersting
Musik: Nikolaus Woernle
Bühne/ performative Objekte: Irene Pätzug
Künstlerische Assistenz: Juliana Oliveira
Kostüme: Yvonne Marcour
Licht: Michael Lentner
Produktion & PR: Hannah Melder
Distribution: Jana Lüthje
Gäste im Rechercheprozess: Christina Ciupke, Cornelia Dörr, Hermann Heisig, Lea Martini, Fabrice Mazliah, Sheena McGrandles, Eva Meyer-Keller, Matthew Rogers, Anna Till, Frank Willens
„Sitzen ist eine gute Idee“ ist eine Produktion von Antje Pfundtner in Gesellschaft in Koproduktion mit Kampnagel Hamburg, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden und FFT Düsseldorf. „Sitzen ist eine gute Idee“ wird gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Kultur und Medien, den Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW. Unterstützt von der Probebühne im Gängeviertel.
Fotos
Fotos: Simone Scardovelli
Presse
„Hamburgs herausragende Choreografin begeistert an ihrem Solo-Abend – auch als längst alle den Saal verlassen haben. Es ist vollbracht. Hamburgs herausragende Choreografin Antje Pfundtner hat ihre über drei Jahre angelegte Trilogie zu Zeit und Vergänglichkeit abgeschlossen. ‚Sitzen ist eine gute Idee‘, ihr Solo-Tanzabend auf Kampnagel, ist nach ‚Ende‘ und ‚Alles auf Anfang‘ ihre wohl bislang radikalste Arbeit. Im Bruchteil von Sekunden wechselt sie dort zwischen mutig, tieftraurig, albern, schräg – und manchmal ist sie auch all das zugleich. (…). Stets folgt auf eine Ankündigung das Unerwartete. Es ist ein Tanzabend der Volten und Verrücktheiten. (…). Ohne jede Schonung nimmt sie (Antje Pfundtner) ihr Publikum allezeit gefangen – mit grazilen Bewegungen aber auch mit klugen Worten. (…). Letztlich sind es philosophische Fragen, die der Abend aufwirft, über Zeit und Vergänglichkeit. Mit heiligem Ernst bricht Pfundtner jede Sentimentalität. (…). Und wenn Pfundtner am Ende als Stehaufmännchen weitermacht, bis der letzte Gast den Saal verlassen hat, dann ist es das furiose Finale eines stimmigen Abends.“ Annette Stiekele/ Hamburger Abendblatt
„(…). Sitzend, der Klappstuhl neben ihr ist frei, ruft sie (Antje Pfundtner): ‚Mein linker, linker Platz ist frei, ich wünsche mir den Jan herbei.‘ Später wünscht sie sich die Edith herbei, den Klaus, ihre Oma und viele andere. Was wie ein heiteres Spiel beginnt, mündet bald in die Erkenntnis der traurigen, unverrückbaren Realität. Egal, wessen Namen die Hamburger Tänzerin und Choreografin ruft und bald verzweifelt schreit: Der Platz bleibt leer und man begreift, dass sie mit allem Schmerz nach den Toten ruft, nach den Fehlenden. Ein harmloses Kinderspiel wird zur eindringlichen Trauerklage, ein schlichter Klappstuhl zum Sinnbild für die brennenden Leerstellen im Leben. Es ist – auch durch die fast unbekümmerte Ruhe danach – die berührendste, intensivste Szene des Abends. (…). Ihr eindringliches, herrlich absurdes Schlussbild findet Pfundtner, als sie in eine riesige rote Boje klettert, sich darin aufrichtet und minutenlang mit dem Fremdkörper hin- und herpendelt. Jetzt hat Pfundtner das Bild gefunden, das im Stehen und in der Bewegung von Melancholie erzählt. Bis dahin, intensive zwei Stunden lang, arbeitet sie mit ihrem Körper, mit Kitsch, mit Wörtern, mit ihren Gedanken, mit seltsamen Objekten und mit den Zuschauern und erschafft ein berührendes, nahbares, und durch die Einbeziehung des Publikums auch kollektives Solo. Bei dem genau in den Momenten der vermeintlichen Heiterkeit eine tieftraurige Melancholie mitschwingt.“ Katrin Ullmann/ taz
„Es sind Brüche wie dieser, die diesen Abend immer wieder auszeichnen, wenn aus einem aggressiven Aufbegehren plötzlich eine Poesie aufblüht, wenn Bühnennebel zu ‚Wolken wie wir‘ wird. Bis Antje dann (…) in ein rotes Gebilde kriecht, aus dessen Öffnung wieder auftaucht (…) und fortan hin- und herschaukelt in diesem ‚Stehaufmännchen‘. Hin und her. Freundlich lächelnd. Bis das Publikum versteht: Es wird endlos so weitergehen, wenn wir uns nicht erheben. Als die ersten den Saal verlassen, brandet zaghaft Beifall auf, aber es gibt kein wirkliches Ende, niemand verbeugt sich – Antje schaukelt und schaukelt … Es ist ein geniales Schlussbild, das ihr hier gelungen ist, denn es war der rote Faden in dieser Trilogie, dass es eben kein Ende und keinen Anfang gibt und dass für immer fraglich bleiben wird, worauf der gefallene Engel bei Dürer schaut: Ist es ein Anfang? Ein Ende? Die Unendlichkeit? Wie auch immer – Antje Pfundtner und ihrer ‚Gesellschaft‘ ist hier ein kleines Kunstwerk gelungen, bei dem sich Tanz und Sprache zu einem stimmigen Ganzen fügen. Bleibt zu wünschen, dass diese Trilogie auch mal ‚en suite‘ gezeigt wird, an mehreren Abenden aufeinander folgend, denn gerade in der Kombination aller drei Werke, die so verschieden sind und doch eine gemeinsame Basis haben, wird deutlich, wie ungemein komplex, durchdacht und durchgearbeitet sie sind. Viel zu schade, um einzeln nur wenige Male gezeigt zu werden und dann in der Versenkung zu verschwinden.“ Annette Bopp/ tanznetz.de